2024: Ein entscheidendes Wahljahr für die Demokratie mit Überlegungen aus Hartmut Rosas Buch ‘Demokratie braucht Religion’

Das Jahr 2024 markiert einen wichtigen Moment für die globale Demokratie, da einige der größten und einflussreichsten Demokratien zu den Urnen gehen. Die Wahlen in Indien, der Europäischen Union (EU) und den Vereinigten Staaten (USA) werden nicht nur die politische Landschaft dieser Regionen neu gestalten, sondern auch erhebliche globale Auswirkungen haben. Die Rolle der Religion in demokratischen Prozessen, wie sie in Hartmut Rosas Buch “Demokratie braucht Religion” erörtert wird, bietet einen mehr als interessanten Blickwinkel auf diese Wahlen.

Indien: Die größte Demokratie der Welt
Indien mit seiner beeindruckenden demokratischen Geschichte hat nun die Parlamentswahlen 2024 hinter sich gebracht. Dieses Land, das für seine enorme Vielfalt und Komplexität bekannt ist, beherbergt die größte wahlberechtigte Bevölkerung der Welt (nach jüngsten Schätzungen gibt es in Indien etwa 940 Millionen Wahlberechtigte). Die Religion spielt eine entscheidende Rolle in der indischen Politik, in der verschiedene religiöse Gruppen sowohl zu Spaltung als auch zu Einheit führen können. Rosas Vorstellung, dass die Religion eine Quelle moralischer und ethischer Werte darstellt, die für eine gesunde Demokratie unerlässlich sind, ist im indischen Kontext offensichtlich, wo religiöse Werte oft die Grundlage für politische Bewegungen und Entscheidungen bilden. Der erwartete Wahlsieg von Premierminister Modi blieb aus und damit auch die erwartete absolute Mehrheit.

Europäische Union: Eine Union der Vielfalt
Auch die Europäische Union hat die wichtigen Wahlen hinter sich. Die Rolle der Religion in der EU ist komplex und vielfältig und reicht von hochgradig säkularen Staaten bis hin zu Ländern, in denen religiöse Traditionen noch großen Einfluss haben. Rosa betont, dass Religion zum sozialen Zusammenhalt und zur moralischen Debatte in demokratischen Gesellschaften beitragen kann, was für die EU von Bedeutung ist, in der die Suche nach gemeinsamen Werten eine ständige Herausforderung darstellt. Auch die Ergebnisse in Europa sind anders ausgefallen, als manche erwartet hatten. Der vorhergesagte “Erdrutsch” zugunsten der (extremen) Rechten beschränkte sich auf ein deutliches Wachstum, während die Parteien der Mitte, abgesehen von den Liberalen und die Grünen, ihre dominante Rolle beibehielten oder sogar verstärkten.

Vereinigte Staaten: Ein entscheidender Moment
In den Vereinigten Staaten werden die Präsidentschaftswahlen 2024 erneut die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich ziehen. Diese Wahl hat das Potenzial, die innen- und außenpolitische Ausrichtung der USA radikal zu verändern. Die USA haben eine reiche Tradition des religiösen Pluralismus, und der Einfluss religiöser Gruppen auf die Politik ist beträchtlich. Rosas Argument, dass Religion eine Quelle der Motivation und Inspiration für politisches Engagement sein kann, trifft hier eindeutig zu, wenn man bedenkt, welche Rolle religiöse Überzeugungen bei der Mobilisierung von Wählern und der Gestaltung politischer Agenden spielen.

Hartmut Rosa führt das Konzept der “Resonanzbeziehung” in seinem Werk ein und entwickelt es weiter, insbesondere in seinem Buch “Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung”. Dieses Konzept spielt auch eine Rolle in seinem Ansatz zu Demokratie in ‘Demokratie braucht Religion.

‘Resonanzbeziehung’ bezieht sich auf eine tiefere, wechselseitige Beziehung zwischen Individuen und ihrer Umwelt. Dies kann sich auf Beziehungen zu anderen Menschen, zur Natur, zur Kultur oder zum Leben im Allgemeinen beziehen. Nach Rosa ist Resonanz ein Zustand, in dem sich Menschen mit dem, was sie umgibt, verbunden, gehört und berührt fühlen. Sein Gegenteil ist der Zustand der “Entfremdung”, in dem sich der Einzelne abgeschnitten, ungehört und isoliert fühlt.

Er geht von vier Merkmalen dieser Resonanzbeziehung aus, diese finden Sie hier.

  1. ‘Affizierung’: vielleicht kann man sogar sagen: die Anrufung.  Etwas ruft mich an, bringt mich zum Auf-hören, und deshalb muss dieses Etwas, kann es nicht einfach das sein, was ich schon immer gedacht habe. Es kommt hier ein transgressives Moment ins Spiel.
  1. ‘Selbstwirksamkeit’: das, was ich tue, tritt mit diesem Anderen in eine Art von Verbindung. Verbundenheit ist ein wichtiges Moment, und die Grundform von Resonanz heißt Hören und Antworten; etwas erreicht mich und ruft mich an, und ich stelle plötzlich fest, es entsteht eine Verknüpfung dadurch, dass ich in der Lage bin, auf das Empfangene zu reagieren.
  1. ‘Transformation’: da, wo Resonanz zustande kommt, wo ich wirklich aufhöre und mich mit dem, was mich erreicht, verbinde, verwandle ich mich, komme ich in-eine andere Stimmung und auf andere Gedanken. Ich fange an, die Welt anders zu sehen oder anders zu denken.
  1. ‘Unverfügbarkeit’: man kann sie nicht herstellen, kaufen oder erzwingen. Wenn sie aber geschieht, wenn sich wirklich Resonanz ereignet, dann findet auch Transformation statt.

In ‘Demokratie braucht Religion wendet Rosa das Konzept der Resonanz auf demokratische Prozesse an. Er argumentiert, dass Demokratien Resonanz brauchen, um wirklich zu funktionieren. Das bedeutet, dass die Bürger das Gefühl haben müssen, gehört zu werden und an den politischen Prozessen beteiligt zu sein. Ohne Resonanz verfallen Demokratien in technokratische oder autoritäre Formen, in denen die Distanz zwischen Bürgern und Entscheidungsträgern wächst. “Gib mir ein hörendes Herz”, bittet schon der junge König Salomo in 1 Kön 3, damit er besser regieren kann.

Rosa sieht in der Religion eine potenzielle Quelle der Resonanz. Religiöse Praktiken und Gemeinschaften können tiefe Resonanzbeziehungen durch Rituale, Gemeinschaftsbildung und die Bereitstellung von Sinn über die individuelle Existenz hinaus fördern. Religion gibt eine Art “vertikales Resonanzversprechen” und kann dazu beitragen, Menschen auf einer tieferen Ebene mit sich selbst, anderen und der Welt um sie herum zu verbinden.

Während Rosas Konzept der Resonanz viel Lob erhalten hat, gab es auch kritische Kommentare. Einige bezweifeln, dass Resonanz ein ausreichend breit anwendbares Konzept ist, um die Komplexität der menschlichen Beziehungen und sozialen Strukturen zu erklären. Andere bezweifeln, dass Religion angesichts ihrer potenziell polarisierenden Wirkung unbedingt eine Quelle positiver Resonanz ist.

Hartmut Rosas Idee der ‘Resonanzbeziehung’ bietet einen spannenden Blickwinkel auf menschliche Interaktionen und soziale Strukturen. Indem er die wechselseitigen und transformativen Beziehungen betont, fordert er eine Neubewertung unserer Beziehung zur Welt. Im Zusammenhang mit Demokratie und Religion unterstreicht er die Bedeutung eines tiefen, gegenseitigen Engagements zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und der individuellen Entfaltung. Wahrlich, ein ernst zu nehmender Aufruf!