In diesen Herbstwochen sind wir Zeugen eines unglaublichen Vorgangs: Der abgewählte Präsident der führenden westlichen Demokratie ignoriert beharrlich die Fakten und weigert sich, seine Wahlniederlage einzugestehen. Noch in der Wahlnacht erklärt er sich während der laufenden Stimmauszählung zum Wahlsieger und fordert den Stopp der weiteren Auszählung. Er erklärt die noch auszuzählenden Briefwahlstimmen, die nach der Prognose überwiegend dem demokratischen Kandidaten zufallen, kurzerhand zu “illegalen” Stimmen. Er redet und twittert von einer “gestohlenen Wahl”, diffamiert den politischen Gegner als “korrupt” und weigert sich bis heute, den Wahlsieg seines demokratischen Konkurrenten anzuerkennen.

Die beiden Harvard-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben schon 2018 in ihrem Buch “Wie Demokratien sterben” sehr genau beschrieben, in welchen Schritten eine Demokratie auch ohne gewaltsame Revolte zur Autokratie mutiert: erst wird die Gesellschaft polarisiert, dann der politische Gegner zum “Feind des Volkes” erklärt und anschließend die Legitimität demokratischer Verfahren bestritten. Genau das ist es, was zurzeit geschieht. Noch trauriger und beunruhigender ist, dass mehr als 70 Mio. Amerikaner offenbar bereit sind, einem Verächter der Demokratie zu folgen.

Und Europa? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bei ihrem Amtsantritt 2019 davon gesprochen, dass Europa die „Sprache der Macht lernen“ müsse. Ein starkes Europa müsse eine “aktivere und verantwortungsvolle Führungsrolle“ in der Welt übernehmen. Nach innen durch die Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und einen neuen Migrationspakt. Nach außen durch Stärkung des Multilateralismus, durch Handel und Widerstand gegen Bedrohungen von Sicherheit und politischer Stabilität.

Wo steht Europa auf diesem Weg heute? Gerade erleben wir, wie zwei Länder den mehrjährigen EU-Haushalt von 1,8 Mrd. und die Corona-Soforthilfen von 750 Mio. mit ihrem Veto blockieren. Möchten sie sich nicht den rechtsstaatlichen Prinzipien unterwerfen? Zeigen sich auch hier erste Ansätze zur Infragestellung demokratischer Grundsätze oder nicht?

Es ist an der Zeit, mit aller Kraft und überall für die Werte der Europäischen Union einzutreten, wie sie in Art. 2 des Vertrags von Lissabon grundgelegt sind: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit in Verbindung mit der Wahrung der Menschenrechte. Bildung zur Demokratie gehört essenziell dazu und wird zunehmend zu einer Schlüsselressource. Das schließt auch die Rückbesinnung auf die religiösen Wurzeln von Menschenwürde und Freiheit ein, damit Demokratiebildung nicht zur technokratischen Halbbildung verkommt. Wertorientierte Bildung “aus gutem Grund” ist dringend notwendig – heute vielleicht mehr denn je!

Wir wünschen Ihnen allen eine gesegnete Adventszeit und ein frohes Weihnachtsfest!

Dr. Tania ap Siôn und Prof. Heid Leganger-Krogstad (ICCS)

Michael Jacobs und Piet Jansen (IV)