Seit Frühjahr 2021 gibt es einen Ausschuss für Interreligiöses und interkonviktionellen Dialog bei der Konferenz der Internationalen Nicht-Regierungsorganisationen am Europarat. [1] “Selbsterkenntnis als Schlüssel für interkulturelles und interreligiöses Verständnis” war das Thema eines Webinars, welches der Ausschuss im Oktober dieses Jahres veranstaltete.

Ohne Selbsterkenntnis – warum wir tun, was wir tun, warum wir sagen, was wir sagen, und warum wir glauben, was wir glauben – ist es schwierig, die Perspektive der anderen zu verstehen. Selbsterkenntnis fördert ein tieferes Verständnis unserer eigenen Konditionierung und hilft uns, uns tiefer in uns selbst und in andere einzufühlen. Dies fördert den Abbau ideologischer Barrieren und baut Brücken, indem wir lernen, diejenigen, die anders sind als wir, zu akzeptieren und zu schätzen. Durch Selbsterkenntnis sehen wir den Menschen im anderen und halten uns nicht an Äußerlichkeiten fest. Ein gestärktes Selbstvertrauen stärkt auch das Selbstvertrauen der anderen. Durch ein vertieftes Selbstbewusstsein öffnet sich eine breitere Sichtweise, um die Dinge um uns herum vollständiger und umfassender zu akzeptieren und kritischen Situationen freier und einfühlsamer zu begegnen. Ein verbessertes Selbstbewusstsein führt zu menschlich-kultureller und spiritueller Verbundenheit und zu konstruktiven Interaktionen mit anderen zum Wohle der gesamten Gemeinschaft. Dass Bildung ganz in der humanistischen Tradition auch „Herzensbildung“ ist, wurde bei den vorgestellten Bildungsprogramme mit ganz unterschiedlichem religiösem Hintergrund deutlich.

Victoria Coleman, Psychologin, stellte die Stiftung „Foundation for Development of Compassion and Wisdom“ (FDCW) vor:  Das aus der buddhistischen Spiritualität entsprungene Programm baut auf individuelle Erfahrung (erfahrenes Mitgefühl und Fürsorge) als auch auf innere handlungsleitende Kriterien (Ethics) auf, die weniger als zu befolgende Regeln angesehen werden, sondern eher als Prinzipien der Selbst-beschränkungen, die das Wohlergehen des anderen im Auge haben.

Ganz in der buddhistischen Tradition der Selbstentwicklung des eigenen Geistes versucht dieses auf 16 Leitlinien aufgebaute Programm solche Praktiken einzuüben lernen. Das Programm “16 Leitlinien” ist z.B. von der israelischen Regierung für den Einsatz in Schulen genehmigt worden und wird auch in anderen Ländern vereinzelt in Schulen ausprobiert.

Von seinen Erfahrungen im Bereich der Bildungsarbeit bei Familien mit Migrationshintergrund berichtete Kassim Mohamed Addan (TUSMO) aus Bergen, Norwegen. Er ist leitender Krankenhausapotheker, Gründer und Vorsitzender des Exekutivausschusses von TUSMO, einer nationalen Vereinigung, die im Bereich der sozialen Integration somalischer Migranten in Norwegen tätig ist. In diesem Programm geht es darum, die Kluft zwischen den Generationen von Familien mit Migrationshintergrund zu verstehen und einen fruchtbaren Dialog in der Familie zu ermöglichen. In Dialogseminaren setzen sich die Teilnehmenden mit den Erwartungen, Ängsten, Enttäuschungen der jeweilig anderen Generation auseinander. Grundlage ist es Räume des Vertrauens (save havens) zu schaffen, um die jeweils eigene als auch die Probleme der anderen Generation verstehen zu lernen.

Kari Flornes (GERFEC), Bildungswissenchaftlerin aus Norwegen und seit 2017 Präsidentin von GERFEC [2] brachte zudem ihre jahrelange Erfahrung auf dem Gebiet in die Diskussion mit ein. Sie betonte, dass gerade bei Erziehung und Bildung mit interkulturellem Kontext es wesentlich ist, erst sich selbst wahrnehmen lernen zu können. So steht für die Initiative GERFEC, in der sie seit Jahren engagiert ist, Empathie im Mittelpunkt des interkulturellen Bildungskonzept. Neben der Schaffung von „safe spaces“ ist es vor allem die Entwicklung der Kompetenzen für empathische Kommunikation, die GERFEC als Schlüssel zu gelungenen Interkulturellem Dialog sieht.

Dies war bereits das zweite Webinar des interreligïosen und interkonviktionellen Dialogausschusses und wahrscheinlich nicht das letzte. Angedacht sind bereits weitere Veranstaltungen hinsichtlich der Fragestellungen im Kontext von Migration und die gerade in Religionsgemeinschaften umstritten diskutierte Frage der Geschlechtergleichheit und Genderfragen.

Sören Lenz


[1] Der Neologismus „Interkonviktionell“ ist im Umkreis französischsprachiger NGOs als funktionaler Begriff verstanden, um auch humanistische Weltanschauungen in den Dialog miteinzubinden. Er wird als komplementärer Begriff zu „Interreligiösität“ aufgefasst, bekannt ist er aber nur im französischsprachigen Raum. Inwiefern er sich seines durchsetzen kann, bleibt abzuwarten.

[2] GERFEC (Groupementd’Étude et de Recherche pour la Formation des Enseignants Chrétien) European Group for research and training of teachers, holding Christian and other beliefs and convictions, based in Bergen, Norway.